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Vom Gewinn des Sichüberwindens

                                 und welchen Preis man dafür zahlt



Ich sage ab. 


Das muss ich nicht machen. In meinem Alter. Ich starre wie hypnotisiert auf die Wegbeschreibung der Classic Bike Adventure Tour durch Nordindien: Nicht asphaltiert, Schlaglöcher, Pisten – das Fahren auf fehlendem Bodenbelag sollte beherrscht werden. Wozu habe ich mich da nur überreden lassen?


Ja, ich liebe Motorradfahren, aber bitte auf ordentlichen Straßen. Claudia, meine Mitstreiterin, puscht und plant. Und eh ich mich versehe, sitze ich auf einer unbequemen, hochbeinigen Off-Road-Maschine im Kieswerk auf der Alb, zu Übungszwecken. Ich soll mich an das Fahren auf unebenen Untergründen gewöhnen. Du machst das ganz gut, sagt mir der Chef Instructor, nachdem ich zum 5. Mal umgekippt bin. 


Was für ein Schei… . Ich reiß mich zusammen und verlege mich aufs Mentaltraining. Schließlich mache ich das, was ich auch meinen Kunden empfehle. Verbrennen und loslassen, was ich nicht haben will. 


Nach insgesamt 9 Stunden Flug sitze ich am 05. August 2023 in Leh in der Region Ladakh in 3600 Meter Höhe auf meiner indischen Royal Enfield Bullet - und habe ein gutes Gefühl. Ein kleines kompaktes Motorrad, keine 200 kg schwer mit robusten Ledertaschen für das Tagesgepäck. Wir zwei freunden uns an und ich streichle ihr liebevoll über den schwarzen Tank. Das wird gut.


Und schon geht’s los mit einer 4-stündigen Übungsfahrt zum Eingewöhnen. Mein Magen krampft sich zusammen, als vor mir Schotter auftaucht. Aber mit Gas und einem klaren Blick nach vorne hält mein Maschinchen mit seinen 500 cm³ und 23 PS Kurs und überwindet die Steine wie eine große. Ja, es wackelt mehr, als ich es gewohnt bin, aber, es funktioniert. Auch indische Riesenpfützen, Schlamm und leichten Sand überwinden wir überraschenderweise gut.


Am dritten Tag sind Straßen gesperrt und wir müssen Wege nehmen, die eigentlich besser für Esel und Kamele geeignet sind. Oder für Profi-Offroader. Die Wege sind steil und holprig. Vor allem in engen Kurven macht mir das zu schaffen und erfordert meine ganze Konzentration. Leitplanken -Fehlanzeige. Einmal falsch geschaut und ich würde tausende von Metern in die Tiefe stürzen. Das Adrenalin pocht in meinem Körper.

Wann erreichen wir wieder Asphalt, frage ich mich gerade zum hundertsten Mal. 


Pause kurz vor dem Gipfel. Das Mechaniker-Begleitfahrzeug wird zur Imbissbude und serviert Momos, Brot und Cola auf der Motorhaube des Jeeps. Will ich wirklich etwas essen? Ja, entscheide ich und greife beherzt zu. Es tut gut. Unser buthanesischer Guide beschließt umzukehren. Risiko, Verantwortung und Abenteuer. Im ersten Gang fahre ich die 1000 Höhenmeter bergab. 


Ich fahre genau dahin, wo ich hinschaue. Fixiere ich dicke Steine, bleibe ich genau dort hängen, würge das Motorrad ab, kippe irgendwann um und habe haufenweise Probleme. Hebe ich stattdessen meinen Blick, schaue weit nach vorne und fokussiere mich auf das Ziel, zieht mich im wahrsten Sinne des Wortes mein Motorrad durch den Schlamassel hindurch. Ich hefte also wie ein Magnet meinen Blick konsequent auf die Stelle, wo ich hin will, gebe kontinuierlich Gas und rufe: „Zieh!“ Selbst wenn’s einer hören würde, wäre es mir egal. ZIEH ist in diesem Urlaub mein persönlicher Schlachtruf geworden. Ziel- statt Problemfokussierung ist das A & O.


Tag für Tag wird es besser und besser. Ich entspanne meine Schultern und meine Hände. Und selbst, als ich im tiefen Sand stecken bleibe, bleibe ich ruhig, stelle die Enfield wieder auf und fixiere mein Ziel. Fehler gehören dazu und sind kein Drama. 


Wir fahren über 9 spektakulär hohe Himalayapässe, davon 5 Fünftausender mit den drei höchsten befahrbaren Pässen der Welt, in der Grenzregion zu Tibet. Zudem umgeben uns eine unendliche Anzahl von Bergen, so unberührt, so majestätisch, so wunderschön, die wahrscheinlich noch nie ein Mensch bestiegen hat. Warum auch. 


Als wir eines Abends im Stockdunkeln in 4.500 Meter Höhe vor unserem Zelt sitzen und in den Himmel schauen, sagt Claudia zu mir: „Hier könnte man wirklich Angst haben, dass einem der Himmel auf den Kopf fällt. Er ist so nah.“ Dann lacht sie, prostet mir zu und wir werden wieder ganz still – ja fast andächtig. Das Dach der Welt. Jetzt ahne ich, was damit gemeint ist. 


Habe ich mich in diesen zwei Wochen erholt? Bestimmt nicht, aber unglaubliche Erfahrungen gemacht und dazugelernt. Unter anderem funktionierende Fahrtechniken eingeübt und alte Befürchtungen ad acta gelegt.


Würde ich es wieder machen? Ja, ist meine eindeutige Antwort.


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